Das Herz im Verständnis der Shipibo (Amazonas)
Für die Shipibo, ein indigenes Volk des westlichen Amazonasgebietes in Peru, besitzt das Herz eine zentrale spirituelle Bedeutung. In ihrer Sprache wird das Herz als „jointi“ bezeichnet – ein Begriff, der weit über das physische Organ hinausgeht und Leben, Seele, Erinnerung sowie die tiefe Verbindung zu Pflanzenspirituosen und Ahnen umfasst. Krankheit wird häufig als „Verdunkelung des jointi“ beschrieben. Der Curandero (Heiler) nutzt Icaros – heilige Gesänge – und pustet gezielt in den Herzbereich, um das jointi energetisch zu reinigen. Es ist das Zentrum von Heilung, Liebe und Seelenbalance.
Ein konkretes Beispiel: In der Shipibo-Tradition gelten Icaros als das „heilige Herz“ der schamanischen Heilkunst. Sie werden während der Dieta – einer spirituellen Diät mit Meisterpflanzen – empfangen. Dabei offenbaren die Pflanzen ihre Lieder dem Heiler. Diese Gesänge wirken wie energetische Chirurgie: Sie dringen tief in das innere Wesen ein, ordnen und reinigen energetische Blockaden und stärken den Seelenfaden. Jeder Icaro ist individuell auf die Person zugeschnitten und kann Traurigkeit auflösen, Freude erwecken oder den Zugang zu Visionen öffnen. Das Herz ist dabei der zentrale Ort, an dem die Heilwirkung aufgenommen und verankert wird.
Es gibt verschiedene Arten von Icaros, die jeweils auf das Herz und die seelische Balance wirken:
- Heil-Icaros (curación icaros): zur Reinigung des Herzens, zur Auflösung von Krankheiten und Blockaden.
- Schutz-Icaros (protección icaros): zum Stärken des Herzens gegen äußere Einflüsse oder negative Energien.
- Verbindungs-Icaros: öffnen das Herz, um Zugang zu Ahnen, Pflanzengeistern und kosmischen Dimensionen zu schaffen.
Die Icaros verbinden Mensch, Natur und kosmische Ordnung. Sie erinnern daran, dass das Herz nicht isoliert existiert, sondern im Austausch mit Pflanzengeistern, Ahnen und Energien steht. Viele Shipibo-Heiler berichten, dass die Pflanzen selbst „durch das Herz singen“ und so Heilung in Bewegung bringen.
Quellen: cayashobo.com, templeofthewayoflight.org, arkanainternational.com, shamansmarket.com, Wikipedia – Icaro
Das Herz im Verständnis der Aborigines (Australien)
Auch in den spirituellen Traditionen der Aborigines Australiens ist das Herz ein zentrales Organ des Bewusstseins. In vielen Sprachen wird das Herz als Sitz von Emotionen, Intuition und Wahrheit verstanden. In der Gija-Sprache (Kimberley-Region) bedeutet das Wort „kiningen“ wörtlich „jemanden im Herzen tragen“ und wird im Sinne von „ich liebe dich“ verwendet. In anderen Aborigine-Sprachen findet sich die Wendung „ngangk min“, was „gutes Herz“ bedeutet und für Freude, Wohlbefinden und innere Ausgeglichenheit steht.
Darüber hinaus hat das Herz bei den Aborigines eine tiefe spirituelle Dimension: Es gilt als der Ort, an dem die Verbindung zu den Ahnen und den Traumzeit-Geschichten (Dreaming) lebendig bleibt. Das Herz wird hier nicht nur als Sitz der Gefühle, sondern auch als spirituelles Organ verstanden, das die Resonanz der Songlines in sich trägt. Songlines sind jene unsichtbaren Pfade, die das Land durchziehen und von den Ahnenwesen in der Traumzeit erschaffen wurden. Sie verbinden Menschen, Landschaften und kosmische Kräfte. Das Herz wird als der Punkt gesehen, an dem diese unsichtbaren Linien „gehört“ werden – nicht durch die Ohren, sondern durch eine innere Wahrnehmung.
Ein konkretes Beispiel dafür findet sich in den Geschichten der Rainbow Serpent (Regenbogenschlange), die in vielen Aborigine-Gemeinschaften als schöpferische Kraft gilt. Sie hat die Flüsse und Landschaften geformt und die Songlines in die Welt eingeschrieben. Das Herz des Menschen wird in diesen Überlieferungen als jener Ort bezeichnet, an dem die Schwingung der Regenbogenschlange spürbar bleibt. Wenn das Herz offen ist, kann es die Traumzeit hören und sich mit der schöpferischen Ordnung verbinden.
Ein weiteres Beispiel ist die Geschichte der Seven Sisters (Plejaden), die in ganz Australien erzählt wird. Diese Ahnenfrauen reisten über das Land und hinterließen Spuren in Form von heiligen Stätten und Songlines. In vielen Versionen heißt es, dass das Herz die Stimmen und Gesänge der Seven Sisters aufnimmt, damit der Mensch sich in der Weite des Landes orientieren kann. Das Herz ist hier das Organ, das den Klang der Ahnen bewahrt und so den inneren Kompass für das Leben im Einklang mit der Schöpfung bildet.
Zusätzlich wird in manchen Überlieferungen betont, dass das Herz als Gefäß für die Stimme der Ahnen gilt: Nicht der Kopf, sondern das Herz „hört“ die Botschaften der Geister und vermittelt sie in Träumen und Visionen. So wird es zum eigentlichen Organ der spirituellen Orientierung.
Quellen: emotionlanguageaustralia.com, medium.com, en.wikipedia.org – Rainbow Serpent, AIATSIS – Seven Sisters Songline
Gemeinsamkeiten zwischen Shipibo und Aborigines
Sowohl die Shipibo als auch die Aborigines begreifen das Herz nicht als bloßes Organ, sondern als spirituelles Zentrum. Es ist der Ort, an dem sich Mensch, Natur, Ahnen und unsichtbare Kräfte begegnen. Krankheiten werden häufig als Herzverlust oder Herzschwäche beschrieben. Heilung bedeutet, das Herz wieder zu verbinden – mit sich selbst, mit der Gemeinschaft, mit der Natur und mit dem Kosmos.
Zusammenfassung
Das Herz spielt bei indigenen Völkern wie den Shipibo im Amazonasgebiet und den Aborigines in Australien eine zentrale Rolle im spirituellen Leben. Begriffe wie „jointi“ (Shipibo), „kiningen“ (Gija) und „ngangk min“ (andere Aborigine-Sprachen) verdeutlichen, dass das Herz als Sitz der Seele, des Wissens, der Liebe und der Verbindung zu Ahnen und Natur verstanden wird. In der Spiritualität der Aborigines ist das Herz zudem das Organ, das die unsichtbaren Songlines und die Traumzeit resonant werden lässt. Geschichten wie die von der Rainbow Serpent und den Seven Sisters zeigen, dass das Herz als Empfänger dieser kosmischen Lieder verstanden wird. Zugleich gilt es als Gefäß für die Stimme der Ahnen, die nicht durch den Kopf, sondern durch das Herz vernommen wird. Bei den Shipibo sind es die Icaros, die das Herz reinigen, stärken und mit den Pflanzengeistern verbinden. Heilung bedeutet in beiden Traditionen, das Herz wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Diese Sichtweise verbindet viele indigene Kulturen weltweit und zeigt die universelle Bedeutung des Herzens als spirituelles Zentrum.
Konkrete Beispiele für Icaros:
- Ein Mariri-Icaro, der traditionell gesungen wird, um das Herz zu stärken und einen Schutzraum für den Patienten zu schaffen. Er ruft den pflanzlichen Geist des Tabaks und der Liane, um negative Energien vom Herzen abzuwehren (cayashobo.com).
- Ein Icaro de amor wird genutzt, um das Herz zu öffnen, Liebe und Verbindung hervorzubringen und Traurigkeit in Freude zu wandeln. Solche Lieder sind eng mit der Herzenergie verbunden und wirken als Brücke zwischen Heiler, Patient und Pflanzengeistern (templeofthewayoflight.org).